Die armen Künstler

Ulrich Krempel, Hannover

Ulrich Krempel, Foto: Hannoversche Allgemeine

Daß Künstler in unserer Gesellschaft in großer Armut leben und immer wieder die schönsten Werke erschaffen, das hat uns vor einigen Jahren ein inzwischen längst demissionierter Bundeskanzler öffentlich noch einmal bestätigt. Und tatsächlich, solche Bilder haben wir alle im Kopf, wenn wir über die bildenden Künste reden, über Dichter, Poeten und Komponisten. Unser Leitbild des Künstlers in unserer Gesellschaft ist ein romantisches; denn eigentlich lieben wir die Armut der anderen so sehr, wie wir die eigene fürchten. So ist unser allerschönstes Künstlerbild immer noch Spitzwegs ‚Armer Poet‘; da sitzt er in seiner kalten Dachkammer, kein Geld fürs Feuerholz, und im zerlöcherten Stiefel stecken die gebündelten Gedichte ebenso wie im Feuerloch. Und dennoch sitzt dieser Mensch mit der Schlafmütze in seinem Bett, verzückt und dichtend, sich von keiner Äußerlichkeit aufhalten lassend, ganz den Rhythmen seiner Verse hingegeben.

 

Solche Modelle halten sich lange. Wir Historiker in unserer Vorstellung von der Geschichte der Kunst bestätigen diese Bilder. So heißt es von Pablo Picasso, der bekanntermaßen als reichster Künstler des 20. Jahrhunderts zu gelten hat, daß er seine Anfangszeit in Paris in einem Atelierhaus verbrachte, das den schönen Namen ‚Bateau Lavoir‘ führte. Ein Haus, in dem sich 30 Künstlerateliers befanden, in dem es einen einzigen Wasserhahn mit kaltem Wasser gab und in dem es nach Terpentin und Katzenpisse roch. Picassos Lebensgefährtin konnte damals oft für Monate das gemeinsame Zimmer deshalb nicht verlassen, weil die beiden kein Geld für Schuhe hatten. Das sind die Künstlermythen in einer Gesellschaft, die auf inzwischen allgemeinen Urlaubsanspruch sowie auf gleiche Rechte für alle, und den Zahnersatz im besonderen setzt. Ein Zerr-Bild, das auf vertrackte Art und Weise davon erzählt, daß diese Gesellschaft die Künstler am Rand hält, ja daß sie die Künste eigentlich nicht braucht in ihrem täglichen Leben und deshalb immer wieder schlechtes Gewissen zeigt. Dann wünscht man gerade den Armen am Rande, den randständigen Künstlern einen großen Erfolg in der Gesellschaft, im künstlerischen Nachleben oder einen gelegentlich noch im Leben der Künstler eintretenden materiellen Reichtum.

 

Die Wirklichkeit der Künstler ist bekanntlich anders gelagert. Das weiß man in einer Stadt, in der seit über 150 Jahren Künstler ausgebildet werden, sehr gut. Künstler müssen leben und arbeiten können, sie stehen morgens auf und kaufen ihre Brötchen, wenn sie dafür das Kleingeld haben. Künstler lieben und schaffen, sie kommunizieren mit anderen Künstlern, sie brauchen Arbeits- und Lebensgrundlagen, die sie in die Lage versetzen, mit dem diffizilen Projekt des Machens von Kunst umzugehen. Für eine so große Anzahl von Künstlern in einer Stadt, wie sie in der Mittelstadt Düsseldorf leben, bestehen folglich große Probleme. Dringende Fragen stellen sich den Künstlern: Für wen arbeite ich hier, wo ist mein Publikum, wie erreiche ich mein Publikum, wie kann ich meine Werke vorstellen, wer interessiert sich für meine Arbeit, wer kauft sie, wie kann ich mein Fortleben auf materieller und künstlerischer Ebene organisieren? Daß gerade die jungen Künstlerinnen und Künstler für solche Unternehmungen nicht immer allein die besten Lösungen finden können, zeigt die Geschichte. Die Vielzahl derjenigen, die als Kunststudenten begannen und als Taxifahrer endeten, ist Legion. Wege, sich einer solchen Verarmung und Proletarisierung zu entziehen, doch noch die Chance zum Überleben als Künstler zu finden, sind in den vergangenen Jahrzehnten jene Modelle gewesen, die sich an der Möglichkeit gemeinsamer Arbeit und gemeinsamen Redens orientierten, die im Zusammenlegen der Ressourcen und in gemeinsamen Projekten mündeten. Die Rede ist von den Atelierhäusern und Ateliergemeinschaften, die Künstler schufen, wenn sie in der Gesellschaft die Möglichkeit dazu fanden. In die Industriebrachen der letzten Jahrzehnte, in die leergezogenen Schulhäuser und Werkstätten des Handwerks zogen die Künstler ein, übernahmen Gebäude, die in einer sich schnell ändernden Gesellschaft funktionslos geworden waren.

 

Daß in diesen Projekten Anklänge an die Bauhütten des Mittelalters zu finden sind, an Künstlergemeinschaften der Vergangenheit, ist deutlich. Ihnen allen gemein ist zunächst die Achtung des jeweils Anderen und das Wissen darum, daß eine entspanntere Situation des Machens von Kunst nur möglich ist, wenn man Synenergien schafft. Solche Künstlerverbünde stehen vielfach neben den Künstlerverbänden, die in den Jahren seit 1970 eine Reihe von sozialen Fragen der Künstlerexistenz angesprochen haben. Die Künstlersozialversicherung allerdings allein ist noch keine Garantie für die Möglichkeit, als Künstler leben zu können. Wir erinnern sehr gut eine Enquete der Bundesregierung vor einigen Jahrzehnten, die damals deutlich machte, daß nur etwa drei Prozent aller bildenden Künstler von ihrer Arbeit leben können und daß alle anderen gezwungen sind, fachfremd zu arbeiten, um sich ein Überleben zu organisieren. So muß Künstlerleben immer auch darauf gerichtet sein, in die eigene Arbeit zu investieren, in die Möglichkeit eines zukünftigen Weiterarbeitens, in die Sicherung des Werkes über lange Zeit, im Vorgriff auf ein Alter, das selten mit einer ordentlichen Altersversorgung beginnen wird. So investieren Künstler in die eigene Zukunft im Austausch und gemeinsamem Arbeiten mit den Kollegen.

 

Ein Projekt wie das des ‚Vereins Ateliers Höherweg‘ ist über die zehn Jahre seines Bestehens ein erfolgreiches Projekt. Das wird besonders deutlich an der Einrichtung des Gastateliers, das die hier lebenden und arbeitenden Künstler für andere Kolleginnen und Kollegen geschaffen haben. Ihr Erfolg ist dabei der Erfolg der anderen, der geförderten. Was die in diesem Projekt Lebenden schufen, ist die Möglichkeit des Austausches und des Aufenthaltes an einem notablen Kunstort, wie Düsseldorf es international immer noch ist, für Freunde, für Andere. Daß die Geförderten hierher kamen, daß sie hier arbeiten konnten, weiterarbeiteten und weiterkamen, daß sie die Stadt mit neuen Werken und Werkschritten verlassen konnten und wahrgenommen wurden in einem anderen Zusammenhang als dem heimischen, aus dem sie kamen, das alles ist ein Zeichen davon, daß sie hier Erfolg hatten. Und mit ihnen hat das Projekt Erfolg; die Initiative derer, die ihr eigenes Arbeiten als Künstler mit der Arbeit anderer verbunden haben.

 

Zehn Jahre sind in der Kunst eine lange Zeit. Keine der programmatischen Künstlergruppierungen des 20. Jahrhunderts hat eine so lange Zeit arbeiten können, der Surrealismus in Frankreich vielleicht einmal ausgenommen. Das Team im Höherweg ist aber immer weiter da. Die Künstler, die hier leben und arbeiten, führen ihr Projekt weiter, und sie haben ihr Engagement für die anderen Künstler, für die Gäste auch deshalb weiterführen können, weil im Verlauf der Jahre viele andere nationale und internationale Künstler dieses Projekt unterstützt haben. Künstler, für Künstler arbeitend, ist in einer Zeit, in der das Rennen um die Marktpositionen im Kunstmarkt so hektisch angesagt ist, ein überraschendes Faktum. Aber die Aktion ‚Künstler für Künstler‘, in der über 150 Künstler Arbeiten stifteten, die in einer großen Tombola ihre Erwerber fanden und mit dem eingespielten Geld die weitere Existenz des Gastateliers sicherten, ist ein Beispiel für ein solches Begreifen der Notwendigkeit gemeinsamen Arbeitens. Die Initiative trägt weiter, die Generosität ist Verpflichtung geworden, weil die Möglichkeit der eigenen Arbeit immer Verpflichtungen den Künstlern aus aller Welt gegenüber schafft.

 

„Düsseldorfer“ aus aller Welt haben dieses Projekt begleitet und unterstützt. Der größte Stolz der Organisatoren dürfte sein, daß sich unter ihren Geförderten auch Künstler finden, die inzwischen in den lebendigen Szenen großer anderer Kunststädte wie New York wichtige Rollen spielen. Denn die Investition in ein Gastatelier, betrieben von Künstlern in einer Stadt der Künstler, ist ja immer auf Zukunft gerichtet. Alle Künstler leben von Optionen auf eine Zukunft, die sich langsam verzehrt, einfach so im Weiterleben. Und wenn Zukunft in dem Sinne von Fortschritt und Erfolg auch auf materieller wie ideeller Ebene sich einstellt, dann sind die Investoren in ein solches Projekt reich belohnt. Sie haben einfach das richtige getan, das zeigt sich jetzt.

 

In den zehn Jahren des Projekts hat sich im Leben aller Künstler in Deutschland vieles geändert. Die materiellen Nöte sind größer geworden, die Gesellschaft, in der angeblich das Geld knapp wird, reagiert mit verschlossenen Taschen auf jene Güter, die nicht den primären Bedürfnissen zugerechnet werden. Was bis heute getragen hat im Projekt Höherweg – Künstleraustausch und -begegnung, Diskurse, Reden, Vergleichen, Streiten und Reisen in andere Kulturkreise, das Arbeiten ohne Produktverpflichtung – ist ein kostbareres Gut als alle Beteiligten sich zurzeit seiner Begründung vorstellen konnten. Künstler zeigen uns, wie Kulturförderung und Kunstförderung funktionieren könnte, wenn die Gesellschaft in einem demokratisch verstandenen Sinne ihre Aufgabe auch darin sähe, die ökonomische Schwäche der Produzenten von Kunst in enger Relation zu ihren künstlerischen Stärken zu sehen.

 

Dabei müsste sich unsere Gesellschaft nicht einmal von der romantischen Vorstellung des armen Künstlers verabschieden. Denn Kunstmachen heißt auch weiterhin, auf die planbaren Karrieren eines Bankbeamten ebenso zu verzichten wie auf die Möglichkeit, durch treue Dienerschaft im Management einer großen Firma irgendwann zum Generalbevollmächtigten der Deutschen Bank aufzusteigen. Künstlerviten und Künstlerleben, die Ausbildung des Schöpfertums folgen anderen Gesetzmäßigkeiten, solchen, die oft nicht planbar sind, und deren Mirakel sich eigentlich erst im Leben wirklich erschließen.